Ein Text von Lisa Bergmann
zur Ausstellung Delicate Entities im KunstRaum Neureut und der Fleischmarkthalle Karlsruhe 2023
Seit einem Jahr arbeiten Boglárka Balassa, Boglárka Bíró, Johnny Linder und Johanna Locher an der Idee für diese Ausstellung, für die Boglárka Balassa den Anstoß gab. Die Künstler*innen kennen sich über sehr unterschiedliche Stationen. Sie sind sich im Studium, bei Auslandsaufenthalten oder gemeinsamen Ausstellungsbeteiligungen begegnet, Pécs und Magdeburg beispielsweise waren dabei Knotenpunkte.
Alle vier Beteiligten haben in ihrer Arbeitsbiografie vielfältige nomadische Erfahrungen gemacht, und das sich-Einlassen auf Unvertrautes wird in ihren Arbeiten als wichtiges Element spürbar.
Boglárka Bíró lebt seit einigen Jahren in Oslo. Sie beschreibt ihren Arbeitsprozess als Aushandeln eines persönlichen Dilemmas, als sich fortlaufend wiederholende, intuitive Auseinandersetzung mit ihrem Material. Sie sammelt Pflanzenteile und testet ihre natürlichen färbenden Eigenschaften. Sie beschreibt diese Erforschung als Wiederaneignung von ursprünglich vorhandenem Wissen, dass mittlerweile in einer Welt aufbereiteter Waren, fertig zum Verbrauch, nicht mehr benötigt wird.
Johnny Linder, der in Wien lebt, hält flüchtige Momente fest. In seinem Ansatz der kameralosen Fotografie erzeugt das Licht die Bilder von selbst, ohne Linsen oder dem Apparat, mit dem Künstler*innen üblicherweise ihre Motive auswählen und willentlich gestalten. Linders Aufgabe besteht im behutsamen Einfangen zufälliger Formen. In seinen Videos, Performances und Fotografien entscheidet er sich für eine bestimmte Herangehensweise, oder erforscht einen Prozess, der die Arbeit anhand von Licht und Zeit entstehen lässt.
In seiner Performance, die heute den Übergang aus der Fleischmarkthalle zur Ausstellung hier in Neureut bereitet hat, transportierte er mit Hilfe seiner Kolleginnen unfixiertes Barytpapier hierher, im absehbar zum Scheitern verurteilten Versuch, sie vor dem Licht zu schützen. Die Kunst macht so den Wechsel zwischen den Orten ablesbar, und bleibt weiter der Atmosphäre ausgesetzt.
Die Verwendung „armer Mittel“, die aus der Bewegung der Arte Povera, aber auch der Land Art bekannt sind, die Auseinandersetzung mit Umwelt und Natur und mit ihren zyklischen Kreisläufen findet sich auch in der Arbeit von Johanna Locher, die in Leipzig ansässig ist.
Locher kreiert visuelle Gedichte, die sie in Medien wie Video, Fotografie, Zeichnung, Installationen sorgsam umsetzt. Nacht und Schlaf als dünne, flüchtige Membran zwischen Körper und Welt sind ein wiederkehrendes Thema, um das sie auch in ihrer Lyrik kreist. Ähnlich wie bei Pflanzen ist für sie die Nacht und ihre Phasen der Dämmerung eine Zeit für Wachstum und kontinuierliche Aktivität.
Boglárka Balassa, die in Karlsruhe lebt, beschäftigen die ursprünglichen Qualitäten ihres Mediums. Sie überwindet klassische Fragestellungen der Malerei, wie die Frage nach Motiv und Illusion, indem sie über die Auseinandersetzung mit dem Material zu ihrer Formfindung gelangt. Hasenleim verursacht Falten in der Leinwand, die Balassa stehen lässt. Die Struktur der Fäden, die sonst kaschiert wird, rückt ins Zentrum und dient bei Balassa als Ausgangspunkt für ihre Malerei.
Es ist erstaunlich, wie in nur wenigen Generationen alltägliche Techniken wie das Sammeln, Einlegen, Fermentieren in Vergessenheit geraten sind, die momentan wieder angelesen werden. In der Bildenden Kunst ist mit den Rückgriffen auf Medien wie Keramik und Textil seit einigen Jahren eine Rückbesinnung auf Aspekte festzustellen, die bereits in den 1960er und 70er Jahre relevant wurden. Mit dem Gebrauch so archaischer wie komplexer Kulturtechniken wie Weben, Filzen oder Spinnen kommt neben ihrer spezifischen Ästhetik inhaltlich die Frage nach Ursprünglichkeit, Umwelt und Natur auf. Wo befinden wir uns, und in welchem Zustand befindet sich unsere Umgebung? Was bedeutet die urwüchsige Stofflichkeit von Fasern, Fäden und Blättern?
Die Gründe für die Wiederkehr dieser Themen sind sicher vielschichtig. Die Bandbreite haptischer Erfahrungen verkleinert sich zusehends mit dem ubiquitären Gebrauch digitaler Technik und Touchscreens. Die Ökonomisierung binärer Ästhetik, die vor allem den Sehsinn anspricht und bevorzugt Glätte produziert, verlangt nach einem Ausgleich. Gegen den Mangel an physischem Kontakt bietet das sich-Einlassen auf unsere unmittelbare Umgebung, die Wahrnehmung von Atmosphäre und von kleinen, biochemischen Veränderungen einen Ausweg. Statt technoider Spekulation über die Zukunft bieten die zurückhaltenden Objekte in »Delicate Entities« unmittelbare körperliche Erfahrungen an, eine Fokussierung auf die mikroskopische Transformation, die immer schon im Hier und Jetzt stattfindet. Ohne Nostalgie erkunden sie menschliche Sensorik, und wieviel sie teilt mit den lebenden, nicht-menschlichen Entitäten um uns herum.
Erinnern Sie sich an den Geruch unbehandelter Jute? Wissen Sie, wie sich frisches Moos anfühlt? Moose, Algen, Flechten wachsen und verwachsen in »Delicate Entities«, sie bilden weiche Nester und Betten. Aber Achtung, so verlockend weich die Filzarbeiten von Boglárka Bíró scheinen, halten sie doch eine surrealistische Falle bereit. Die Kissen und Polyeder besitzen effektive Dornen. Ohne zerbrechlich zu sein, und wehren sie sich gegen vorschnelle Vereinnahmungen.
In welchen Zustand versetzen uns die Arbeiten, und welche Verbindungen spinnen die »delikaten Entitäten« in ihre Umgebung hinein und zu ihrem Gegenüber? Was befindet sich Dazwischen, was reibt, krisselt und rauscht? Wie in ASMR-Clips, die den Autonomous Sensory Meridian Response provozieren, beruhigen die natürlichen Farben, die Gerüche der Materialien und die Weichheit der Stoffe alle fünf Sinne.
Die zarten Objekte entstehen in behutsamen Prozessen. Sie sind ihrer Umgebung ausgesetzt und wirken gleichzeitig auf diese zurück. Performativ zeigen sie Veränderung und fordern damit unsere Wahrnehmung der Veränderung ein.